Produktionsbedingungen und nationale Identität

CarlosBarros89 4 views 49 slides Oct 31, 2025
Slide 1
Slide 1 of 49
Slide 1
1
Slide 2
2
Slide 3
3
Slide 4
4
Slide 5
5
Slide 6
6
Slide 7
7
Slide 8
8
Slide 9
9
Slide 10
10
Slide 11
11
Slide 12
12
Slide 13
13
Slide 14
14
Slide 15
15
Slide 16
16
Slide 17
17
Slide 18
18
Slide 19
19
Slide 20
20
Slide 21
21
Slide 22
22
Slide 23
23
Slide 24
24
Slide 25
25
Slide 26
26
Slide 27
27
Slide 28
28
Slide 29
29
Slide 30
30
Slide 31
31
Slide 32
32
Slide 33
33
Slide 34
34
Slide 35
35
Slide 36
36
Slide 37
37
Slide 38
38
Slide 39
39
Slide 40
40
Slide 41
41
Slide 42
42
Slide 43
43
Slide 44
44
Slide 45
45
Slide 46
46
Slide 47
47
Slide 48
48
Slide 49
49

About This Presentation

Veröffentlicht in Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 9/II, M-N, Berlin, Argument, 2023, Seiten 1791-1801.


Slide Content

Produktionsbedingungen und
nationale Identität
*
Carlos Barros
Universität Santiago de Compostela
I. N.en sind keine ahistorischen Einheiten, sondern soziale
Konstrukte und Ergebnis der Entwicklung von Kapitalismus und
bürgerlicher Gesellschaft seit dem Ende des Mittelalters. Ein
entscheidendes Moment im Prozess der Herausbildung der N sind
die bürgerlichen Revolutionen, darunter die Französische, welche
die Konstituierung der bürgerlichen N mit der Abschaffung
feudaler Privilegien und der Etablierung der Volkssouveränität
verbindet. Die Nationenbildung setzt sich im 19. Jh. mit der
Unabhängigkeit der Kolonien Lateinamerikas und in Europa mit
der Griechenlands (1830) sowie der Vereinigung Deutschlands
und Italiens durch eine >passive Revolution< (Gramsci) von oben
fort. Gleichzeitig betreiben die meisten europäischen
kapitalistischen Staaten - im Namen ihrer ^nationalen Interessen^^
- koloniale Eroberungen in Asien und Afrika, wo sich im 20. Jh.
infolge der Befreiung von Kolonialherrschaft neue komplexe
*
Carlos Barros, “Produktionsbedingungen und nationale Identität”, Historisch-kritisches
Wörterbuch des Marxismus, Band 9/II, M-N, Berlin, Argument, 2023, Seiten 1791-1801.

Prozesse der Herausbildung von N.en auf oftmals multiethnischer
Grundlage vollziehen.
Das Themenfeld der N ist im Marxismus in erster Linie mit der
Frage verbunden, wie sich sein internationalistisches
Grundanliegen zur jeweils national orientierten Form der Kämpfe
verhält. Darin besteht die Substanz der Auseinandersetzungen
zwischen unterschiedlichen Richtungen des Marxismus seit dem
Ende des 19. Jh.
1. Marx und Engels haben weder eine genaue Definition noch
eine systematische Theorie der N oder eine allgemeine politische
Strategie für Sozialisten auf diesem Gebiet entworfen. Ihre
einschlägigen Artikel sind meist konkrete politische
Stellungnahmen zu bestimmten Fällen. Im Manifest erkennen sie
einerseits an, dass das Proletariat >sich zur nationalen Klasse
erheben, sich selbst als N konstituieren muss<; andererseits
betonen sie das internationalistische Wesen der proletarischen
Bewegung: >Die Arbeiter haben kein Vaterland.< (4/479) Die
künftige >Herrschaft des Proletariats< werde >die nationalen
Absonderungen und Gegensätze der Völker<, die >schon mit der
Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem
Weltmarkt< sich allmählich auflösen, >noch mehr verschwinden
machen< (ebd.). Denn >während die Bourgeoisie jeder N noch
aparte nationale Interessen behält<, so argumentieren sie schon in

der DI, >schuf die große Industrie eine Klasse, die bei allen N.en
dasselbe Interesse hat und bei der die Nationalität schon vernichtet
ist< (3/60).
Zweifellos stehen Marx und Engels auf festem Grund, wenn sie
die Internationalisierung der Ökonomie durch die kapitalistische
Produktionsweise betonen: die Entstehung des Weltmarkts, der
>an die Stelle der alten lokalen und nationalen
Selbstgenügsamkeit […] eine allseitige Abhängigkeit der N.en
voneinander< gesetzt hat (4/466). Doch die Vorstellung, dass mit
der >Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr
entsprechenden Lebensverhältnisse< auch die >nationalen
Absonderungen und Gegensätze< mehr und mehr verschwinden
werden (479), zeigt eine Tendenz zum Ökonomismus, als seien
nationale Differenzen lediglich Differenzen im
Produktionsprozess.
Diese im Manifest und später im Kapital durch die Kritik der
politischen Ökonomie begründete Perspektive des proletarischen
Internationalismus enthält kaum Anhaltspunkte für eine praktisch-
politische Orientierung im Blick auf konkrete Erscheinungsformen
der nationalen Frage. Die Notwendigkeit einer solchen
Positionierung folgt aus der politischen Erfahrung, dass die
Bourgeoisie nicht nur dazu neigt, äußere nationale Gegensätze zu
nähren, sondern es auch im Innern geradezu darauf anlegt, sie zu
verschärfen. Daraus ergeben sich Einsichten in Tendenzen, die

den Nationalismus langfristig begünstigten: (a) die Kontrolle von
Märkten schafft Konflikte zwischen den kapitalistischen Mächten;
(b) die Ausbeutung einer N durch eine andere erzeugt nationale
Feindseligkeiten; (c) Chauvinismus ist eines der ideologischen
Werkzeuge der Bourgeoisie, um ihre Herrschaft über das
Proletariat aufrechtzuerhalten. Diese Aspekte kommen in
allgemeiner Hinsicht bes. in Texten zur Auseinandersetzung mit
dem liberal-demokratischen Nationalismus Giuseppe Mazzinis
und dem nationalen Nihilismus Pierre-Joseph Proudhons zum
Ausdruck; konkrete Schlussfolgerungen enthalten v.a. die
Schriften über Polen und Irland.
Marx und Engels unterstützen Polen im Namen des allgemeinen
demokratischen Prinzips der Selbstbestimmung der Völker, v.a.
aber aufgrund des Kampfs gegen das zaristische Russland, die
Hauptbastion der Reaktion in Europa. In der irischen
Unabhängigkeitsbewegung erkennen sie anfangs innerhalb einer
Union mit Großbritannien die besten Chancen sowohl für die
Beendigung der Unterdrückung der Iren durch die mächtigen
englischen Grundherren als auch für den Kampf der
Arbeiterbewegung (Chartisten) in England, während sie später in
den 1860er Jahren die volle Unabhängigkeit der Iren als
Bedingung für die Befreiung des englischen Proletariats ansehen.
Am Beispiel der Irlandfrage begründet Marx 1866 in einer
Konfidentiellen Mitteilung an den Generalrat der IAA das für die

spätere Entwicklung des marxistischen Diskurses über das
Verhältnis von nationaler Selbstbestimmung und proletarischem
Internationalismus bedeutende Prinzip: >Das Volk, das ein
anderes unterjocht, schmiedet seine eigenen Ketten< (16/417). Er
zeigt, dass die nationalen Spaltungen und Gegensätze von der
Bourgeoisie >künstlich geschürt und wachgehalten< werden, da
die Unterdrückung einer anderen N die ideologische Hegemonie
der Bourgeoisie über die Arbeiter in der unterdrückenden N stärkt
(ebd.). So hat die Bourgeoisie >durch die erzwungene
Einwanderung der armen Iren< nach England >das Proletariat in
zwei feindliche Lager gespalten<, wobei der englische Arbeiter
>den irischen als einen Konkurrenten [hasst], der die Löhne und
den standard of life herabdrückt<, gepaart mit >religiösen und
nationalen Antipathien< (416). Eine Emanzipation der
unterdrückten N hingegen würde eine Schwächung der
ökonomischen, politischen, militärischen und ideologischen Basis
der herrschenden Klassen in der Unterdrückernation bewirken,
und es dadurch der Arbeiterklasse beider N.en erlauben, sich
gegen den gemeinsamen Feind zu verbünden. Denn wenn der
nationale Befreiungskampf der Iren das >Bollwerk des englischen
Landlordismus< in Irland beseitigte, würde dieser >nicht nur eine
bedeutende Quelle seiner Reichtümer verlieren, sondern auch
seine größte moralische Kraft – die Kraft, die Herrschaft
Englands über Irland zu repräsentieren< (ebd.).

Anders als in diesen beiden Fällen, bei denen es um den Kampf
gegen das Zentrum der feudalen Reaktion bzw. des Kapitalismus
geht, verhält es sich, wo Marx und Engels nationale
Unabhängigkeitsbewegungen direkt oder indirekt im
Zusammenhang mit reaktionären oder offen konterrevolutionären
Bestrebungen sehen. In dieser Hinsicht findet sich bei Engels das
retrospektiv eher kurios anmutende Urteil über Völker, >die
niemals eine Geschichte hatten< (1866, 16/158), das er während
der Revolution von 1848 im Zusammenhang mit der Kritik am
Panslawismus auf slawische Völker wie Tschechen, Slowaken,
Kroaten und Serben, aber auch auf Bretonen, Schotten und Basken
bezieht: >Diese Reste einer von dem Gang der Geschichte, wie
Hegel sagt, unbarmherzig zertretenen N, diese Völkerabfälle [...]
bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder
Entnationalisierung die fanatischen Träger der Kontrerevolution,
wie ihre ganze Existenz überhaupt schon ein Protest gegen eine
große geschichtliche Revolution ist.< (NRhZ, 6/172; vgl.
Rosdolsky 1964) Im Gegensatz zu diesem Urteil stellt Engels
wenig später fest, dass >die Geschichte wie auch die Tatsachen
unserer Zeit [...] auf die Notwendigkeit hin[weisen], in Europa auf
den Trümmern des Moslemreiches einen freien, unabhängigen
christlichen Staat zu gründen< (1853, 9/35), dessen Keimzelle
>Serbien< sein könnte, wo die >Südslawen< immerhin >schon
einen kraftvollen und verhältnismäßig aufgeklärten nationalen

Kern<, wenn auch >noch keine N< haben (34). Dies zeigt, wie
flexibel - gerade bei der Priorität revolutionärer Interessen - die
Beurteilung von Konstellationen der nationalen Frage sein konnte.
Flexibel gehen Marx und Engels auch an die Frage der nationalen
Vereinigung Deutschlands heran. Sie betrachten dessen
Aufteilung in rivalisierende Kleinstaaten und die Einmischung
auswärtiger Mächte als Hindernis für die Entwicklung moderner
bürgerlicher Verhältnisse und besserer Kampfbedingungen der
Arbeiterbewegung. Nach dem Scheitern der Revolution ^von
unten^^ 1848/49 verstehen sie zunächst jegliche Versuche der
Einigung Deutschlands, selbst wenn sie ^von oben^^ kommen, als
fortschrittlich. So nehmen sie noch im Juli 1870 den sich
ankündigenden Krieg vom Standpunkt Preußens als
>Verteidigungskrieg< wahr (Erste Adresse des Generalrats über
den Deutsch-Französischen Krieg, 17/5), zwei Monate später
aber, nach der Niederlage von Sedan, dem Fall Napoleons III. und
der Ausrufung der Republik, stellen sie sich auf die Seite der
Französischen Republik (Zweite Adresse des Generalrats über
den Deutsch-Französischen Krieg, 17/271-79) und im Frühjahr
1871 wiederum ergreifen sie - gleichermaßen gegen deren
Regierung und die deutschen Belagerer - Partei für die Pariser
Kommune (Bürgerkrieg, Beilagen, 17/363ff).

2. Wiederum unter dem Leitaspekt des Zusammenhangs nationaler
und revolutionärer Interessen kommt es ab Ende des 19. Jh. unter
den Bedingungen des Imperialismus und der Differenzierung der
Arbeiterbewegung in nationale Parteien innerhalb der Zweiten
Internationale zur bedeutendsten marxistischen Debatte über die
Problematik der N und die Bedeutung der nationalen Frage. Es
geht weiterhin um spezifische Themen wie die Zukunft Polens
(Rosa Luxemburg), die Judenfrage (vom Bundisten Wladimir D.
Medem bis zum sozialistischen Zionisten Ber Borochow und zu
Lenin) oder die Irische Frage (James Connolly), aber auch, mehr
als bei Marx und Engels, um allgemein-theoretische
Überlegungen, vorwiegend bei Marxisten aus Österreich-Ungarn
und Russland. Diese Grundsatzdebatte wird v.a. unter den damals
^radikalen Linken^^ (Anton Pannekoek, Josef Strasser,
Luxemburg, Lenin, Trotzki und Stalin) und zwischen diesen
und dem Austromarxismus (Otto Bauer, Karl Renner) geführt.
Die zentrale Frage dabei ist, welche Bedeutung den
Unabhängigkeitsbestrebungen der in den multiethnischen
Großstaaten lebenden N.en und Nationalitäten für die Strategie
und die Organisation der revolutionären Arbeiterbewegung
zukommt. Hierbei geht es auch um die historischen Grundlagen
der Entwicklung von N.en und um das grundsätzliche Verhältnis
von proletarischem Internationalismus und Nationalismus sowohl

bei den unterdrückten als auch bei den jeweils dominierenden
Völkern wie Deutschen und Russen.
2.1 Luxemburgs Herangehen an diese Problematik ergibt sich
zunächst aus dem Gegensatz zwischen dem marxistisch-
internationalistischen Programm der 1893 von ihr mitgegründeten
Sozialdemokratischen Partei Polens (SDKP) und der
separatistischen Orientierung der Sozialistischen Partei Polens
(PPS), deren Ziel die Unabhängigkeit Polens ist. Luxemburg und
ihre Genossen wenden sich entschieden gegen diese Forderung
und kritisieren die PPS als eine sozialpatriotische Partei.
Stattdessen betonen sie die enge Verbindung zwischen russischem
und polnischem Proletariat und deren gemeinsames Schicksal.
Mit dieser Position vertritt Luxemburg die SDKP 1896 auf dem
Londoner Kongress der Zweiten Internationale: Die Befreiung
Polens sei >gleichermaßen utopisch< wie die der
>Tschechoslowakei, Irlands und Elsass-Lothringens […]. Statt
eines geschlossenen politischen Kampfes des Proletariats in jedem
Staat würde im Prinzip seine Zerstörung durch eine Kette
unfruchtbarer nationaler Kämpfe sanktioniert< (1896/1971, 151).
Die theoretischen Grundlagen für diese Auffassung ergeben sich
auch aus Forschungen für ihre Dissertation Die industrielle
Entwicklung Polens, deren Hauptthese ist, dass der als Königreich
Polen dem Zarenreich angegliederte größte Teil Polens
ökonomisch bereits in Russland integriert sei (1898, 60-68).

Allein die vorkapitalistischen Schichten nährten noch die
utopischen Träume von der >Wiederaufbauung eines
unabhängigen polnischen Staates< (91).
Wenn Luxemburg, wie sonst nur selten in ihrem Werk, während
der ersten russischen Revolution in der Einleitung zum
Sammelband Die Polnische Frage und die sozialistische
Bewegung (1905) auch auf die Bedeutung nationaler Gefühle
eingeht, behandelt sie diese einerseits lediglich als ^kulturelles^^
und damit gegenüber sozialökonomischen Bedingungen
sekundäres Phänomen. Andererseits betont sie aber in Bezug auf
den Kampf gegen den Zarismus, die nationale Unterdrückung sei
die >unerträglichste< und >unmenschlichste Unterdrückung< und
könne nur >Aufruhr und Hass< hervorbringen (1905/1971, 217).
In der mit Lenin und den Bolschewiki seit dem Streit um das
Parteiprogramm der SDAPR von 1903 strittigen Kernfrage von
Selbstbestimmung und Lostrennung unterscheidet sie hier noch
moderat zwischen dem unbestreitbaren Recht jeder N auf
Selbstbestimmung, das den >elementarsten Grundsätzen des
Sozialismus< entspringt, und der Wünschbarkeit dieser
Unabhängigkeit für Polen, die sie verneint (192).
Luxemburgs umstrittene und von Lenin bes. kritisierte
Stellungnahme zur nationalen Frage ist die 1908/09
veröffentlichte Artikelfolge Nationalitätenfrage und Autonomie.
Ihre Hauptpunkte betreffen über die politische Strategie hinaus

Grundfragen der Entwicklung von N.en im Kapitalismus: erstens
sei >das Recht der N.en auf Selbstbestimmung< nur >die
metaphysische Formulierung einer Idee<, die >erst in jener
Gesellschaftsordnung auf[hört], eine Phrase zu sein, in der auch
das ^Recht auf Arbeit^^ aufhört, leerer Schall zu sein< (2018,
72f); zweitens impliziere die Unterstützung des Rechts auf
Abspaltung jeder N in Wirklichkeit die Unterstützung des
bürgerlichen Nationalismus, denn >in der Klassengesellschaft
existiert eine als ein einheitliches gesellschaftlich-politisches
Ganzes verstandene ^N^^ nicht<, es gibt lediglich >Klassen mit
antagonistischen Interessen und ^Rechten^^< (69f); drittens sei
>die selbständige Existenz der kleineren und kleinen N.en< im
Allgemeinen und Polens im Besonderen >utopisch< angesichts
des >kapitalistischen Imperialismus<, da die Idee von deren
Unabhängigkeit >der Perspektive einer Umkehr von der
großkapitalistischen Entwicklung hin zu den mittelalterlichen
Kleinstaaten< gleichkomme (65). Für Luxemburg bilden nur
einige N.en des Osmanischen Reichs (wie Griechen, Bulgaren,
Mazedonier, Serben, Armenier) eine Ausnahme von dieser Regel,
denn ihre ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle
Entwicklung habe die des Osmanischen Reichs überflügelt, sodass
dieses dekadente Imperium als schwerer Ballast auf ihnen laste
(vgl. 53f). Um ihre Ansichten zur fehlenden Zukunft kleiner N.en
zu unterfüttern, beruft sich Luxemburg auf Engels’ Artikel über

die geschichtslosen Völker aus der NRhZ, den sie irrtümlich Marx
zuschreibt (vgl. 61f), was sich erst 1913 mit der Veröffentlichung
des Marx/Engels-Briefwechsels aufklärt.
Auch während des Ersten Weltkriegs, als Luxemburg wie Lenin
eine der wenigen Führungspersönlichkeiten der Zweiten
Internationale ist, die nicht in der durch den Kriegsbeginn
ausgelösten sozialpatriotischen Welle untergeht, bleibt sie bei
ihrer Grundposition. In der 1915 im Gefängnis verfassten Schrift
Die Krise der Sozialdemokratie übernimmt sie zwar das
Selbstbestimmungsprinzip: >Der Sozialismus gesteht jedem Volke
das Recht auf Unabhängigkeit und Freiheit, auf selbständige
Verfügung über die eigenen Geschicke zu.< (GW 4, 134) Aber sie
ist unverändert davon überzeugt, dass dieses Recht weder in
kapitalistischen Staaten noch in kolonial beherrschten Ländern
erfolgreich wahrgenommen werden kann. Im Zeitalter des
Imperialismus sei der Kampf für die >nationalen Interessen< ein
>Düpierungsmittel<, nicht nur mit Blick auf die großen
Kolonialmächte, sondern auch auf die kleinen N.en, die >nur
Schachfiguren in dem imperialistischen Spiel der Großmächte<
seien (Entwurf zu den Junius-Thesen, GW 4, 44).
2.2 Trotzkis Schriften zur nationalen Frage vor 1917 nehmen
einen Platz zwischen Luxemburg und Lenin ein. In Der Krieg
und die Internationale (1914) – einer Polemik gegen den
Sozialpatriotismus – argumentiert er von zwei verschiedenen,

wenn nicht widersprüchlichen Standpunkten aus. Zum einen
vertritt er einen historisch-ökonomischen Ansatz, wonach der
Weltkrieg das Ergebnis des Widerspruchs zwischen den
Produktivkräften, die sich zu einer Weltökonomie
zusammenschließen, und dem sie einengenden Rahmen des
Nationalstaats ist. Er fordert daher >die Zertrümmerung des
nationalen Staates als eines selbständigen Wirtschaftsgebietes<
(III). Allerdings schließt er hieraus auf den >Zusammenbruch des
nationalen Staates< überhaupt (ebd.). Die >Nationalität< als
solche sei in Zukunft nurmehr eine >kulturelle, ideologische,
psychologische Tatsache< (ebd.).
Zum anderen verfolgt Trotzki einen politischen Ansatz. Dabei
setzt er auf das Recht auf Selbstbestimmung, auf >den Frieden der
Völker selbst und nicht die Aussöhnung der Diplomaten< (58).
Darin mit Luxemburg übereinstimmend, nimmt Trotzki aber im
Unterschied zu ihrer integralen Konzeption Partei für >die
Unabhängigkeit Polens [...] auf beiden Fronten<, d.h. >auf der
Romanowschen und der Habsburgischen< (7), und tritt auch
generell für die volle Unabhängigkeit der Ungarn und Tschechen
ein. In der Befreiung Rumäniens, Bulgariens, Serbiens usw. und
deren Zusammenschluss zu einer >Föderation der Balkanstaaten<
sieht er die beste Schranke zugleich gegen >die Gelüste des
Zarismus< (6) und gegen das Osmanische Reich. Außerdem
erkennt er einen dialektischen Zusammenhang zwischen

proletarischem Internationalismus und nationalen Rechten: Die
Zerstörung der Internationale durch die Sozialpatrioten sei nicht
nur ein Verbrechen gegen den Sozialismus, sondern auch gegen
die eigene N, insofern es die einzige soziale Kraft liquidiert, die
imstande sei, Europa auf demokratischen Prinzipien und dem
Recht der Völker auf Selbstbestimmung aufzubauen (41-54). Nach
1917 übernimmt Trotzki grundsätzlich die leninsche Konzeption,
gerät jedoch aufgrund seines unbedingten revolutionären
Internationalismus mit Lenins Pragmatismus in Konflikt, so 1918
in der Frage des Waffenstillstands von Brest-Litowsk und 1920
beim Krieg gegen Polen.
2.3 Den Austromarxisten um Bauer und Renner geht es - im
Gegensatz zu Lenin und Trotzki - v.a. um die kulturelle
Autonomie der in öffentlich-rechtliche Körperschaften zu
integrierenden N.en und Nationalitäten mit einer Vielzahl von
kulturellen, administrativen und legalen Befugnissen. Bauers
umfassendes Werk Die Nationalitätenfrage und die
Sozialdemokratie (1907) teilt das Grundanliegen Renners und der
anderen Austromarxisten: den Erhalt des Vielvölkerstaats durch
die Gewährung kultureller nationaler Autonomie für die
verschiedenen ethnischen Gemeinschaften. Die Spezifik von
Bauers Analyse ist ihre psycho-kulturelle Dimension, die auf dem
Konzept des psychologisch gefassten >Nationalcharakters<
basiert: er zielt auf >die Verschiedenheit der Willensrichtungen,

die Tatsache, dass derselbe Reiz verschiedene Bewegung auslöst,
dieselbe äußere Lage verschiedene Entschließung hervorruft<
(1907, 111).
Dieses im Neukantianismus wurzelnde Konzept wird von Bauers
marxistischen Kontrahenten (Kautsky, Pannekoek, Strasser u.a.)
scharf kritisiert (Löwy 1976, 91). Bauers Arbeit hat aber aufgrund
ihres historischen Ansatzes einen unleugbaren theoretischen Wert.
Seine Auffassung der N als historische >Schicksalsgemeinschaft<
(1907, 24), als das >nie vollendete Produkt eines stetig vor sich
gehenden Prozesses< (122), als Kristallisierung vergangener
Ereignisse, als ein >Stück geronnener Geschichte< (123) steht
nicht, wie von den Kritikern behauptet, im Gegensatz zum
historischen Materialismus, wohl aber in strikter Opposition zum
reaktionären Mythos des ^ewigen Volkes^^ und zu rassistischen
Ideologien. Sein historischer Ansatz macht Bauer gegenüber den
oft abstrakten Argumentationen des damaligen Marxismus in
mancher Hinsicht methodologisch überlegen. Insoweit seine
Methode nicht allein eine historische Erklärung für bestehende
nationale Strukturen beinhaltet, sondern die N als Prozess auffasst,
als eine in fortwährender Veränderung begriffene Bewegung, kann
er Engels’ >grundlegenden Irrtum< von 1848/49 vermeiden,
>dass N.en, die keine Geschichte haben, auch keine Zukunft
erhoffen dürfen< (272). Die Entwicklung des Kapitalismus in
Mitteleuropa und auf der Balkanhalbinsel habe nicht zur

Assimilation, sondern zum >Erwachen der geschichtslosen N.en<
geführt (ebd.).
2.4 In diesem Zusammenhang ist eine genaue Betrachtung des
Verhältnisses der später oft als Einheit rezipierten Positionen von
Lenin und Stalin wichtig. Stalin ist der erste bolschewistische
Führer, der der Nationalitätenfrage eine separate Arbeit widmet.
Lenin, der Stalin nach Wien schickte, um diese Frage zu
untersuchen, spricht in einem Brief an Maxim Gorki von dem
>prächtigen Georgier<, der >sich an die Arbeit gemacht< habe
und einen >großen Artikel< schreibe (Febr. 1913, LW 35, 66).
Doch als Marxismus und nationale Frage (1913) fertig ist, scheint
Lenin nicht gerade begeistert, denn er erwähnt es in keiner seiner
zahlreichen einschlägigen Publikationen, abgesehen von einer
beiläufigen Bemerkung in einem Artikel vom Dezember 1913
über Das nationale Programm der SDAPR, wo er >in der
theoretischen marxistischen Literatur< besonders auf Stalins
Schrift hinweist (LW 19, 535). Zwar ist offenkundig, dass deren
Hauptgedanken mit der Konzeption der bolschewistischen Partei
und Lenins übereinstimmt, doch Trotzkis Behauptung, die
>ganze Arbeit< sei unter Lenins >unmittelbarer Anleitung
geschrieben und von ihm Zeile für Zeile durchgesehen< worden
(1946/1971, 236), scheint zweifelhaft.
Tatsächlich unterscheidet sich Stalins Schrift in zahlreichen
Einzelpunkten implizit und explizit von Lenins Schriften und

widerspricht diesen teilweise sogar. Mit der kühnen Aussage, eine
N entstehe nur auf der >Grundlage der Gemeinschaft der Sprache,
des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der
Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart<
(Marxismus und nationale Frage, W 2, 272; Herv. getilgt), gibt
Stalin seiner Theorie einen dogmatischen, restriktiven und rigiden
Charakter, den man bei Lenin niemals fände. So ist z.B. das
Konzept des >Nationalcharakters< und einer gemeinsamen
>psychologischen< Ausstattung, das Stalin trotz seiner Kritik an
Bauers Auffassung zu den konstitutiven Merkmalen einer N zählt,
keineswegs leninistisch (ebd.). Lenin kritisiert Bauer vielmehr
gerade für seine >psychologische Theorie< (1914, LW 20, 400).
Insgesamt ist Stalins Konzeption ein ideologisches Prokrustesbett.
Ihm zufolge waren die Georgier in der ersten Hälfte des 19. Jh.
keine N, da sie >kein gemeinsames Wirtschaftsleben< hatten und
>in eine ganze Anzahl voneinander getrennter Fürstentümer<
aufgeteilt waren (W 2, 270). Nach diesem Kriterium wären z.B.
auch die Deutschen vor der Zollunion keine N gewesen. Wegen
der Einstellung zum Nationalismus der Georgier geraten Lenin
und Stalin 1922 im Umfeld der Gründung der UdSSR aneinander
(LW 36, 590-96), was der Historiker Mosche Lewin 1967 als
>Lenins letzten Kampf< bezeichnet.
Stalin widerspricht ausdrücklich der Möglichkeit einer
Assoziation nationaler Gruppen innerhalb eines Vielvölkerstaats:

>Lassen sich denn solche voneinander abgesonderte Gruppen zu
einem einheitlichen nationalen Verbund zusammenfassen? […]
Wäre es denkbar, beispielsweise die baltischen und die
transkaukasischen Deutschen ^zu einer N
zusammenzuschließen^^?< (W 2, 298) Selbstverständlich sei all
das >undenkbar<, >unmöglich< und >Utopie< (ebd.). Zwar hält
dies auch Lenin für abwegig, aber er verteidigt im Kampf gegen
den Zarismus energisch >die Freiheit aller und jeglicher
Verbände, darunter auch eines Verbandes beliebiger Gemeinden
einer beliebigen Nationalität in einem gegebenen Staat<
(Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, 1913, LW 20, 25).
Für die >Beseitigung jeder nationalen Unterdrückung< sei es
>äußerst wichtig, autonome Bezirke […] mit geschlossener,
einheitlicher nationaler Zusammensetzung zu schaffen<, sodass
Verbände und >Angehörige der betreffenden Nationalität, die in
allen Ecken und Enden des Landes oder sogar des Erdballs
verstreut sind, zu diesen Bezirken ^tendieren^^ […] könnten<
(36). Im Gegensatz zu Stalin steht auch, dass Lenin hier die
nationale Zusammensetzung nur als einen der maßgeblichen
Faktoren – neben anderen - für eine progressive Gestaltung der
Verwaltungseinheiten ansieht (36f).
Stalins Position unterscheidet sich von der Lenins nicht zuletzt
dadurch, dass er keinen Unterschied zwischen dem großrussisch-
zaristischen, unterdrückenden Nationalismus und dem

Nationalismus unterdrückter Völker macht. Stalin lehnt den >von
oben< ausgehenden repressiven, >streitbaren Nationalismus<
ebenso ab wie die >Gegenwelle des Nationalismus von unten […],
der mitunter in brutalen Chauvinismus überging<, wie sich an
Polen, Juden, Tataren, Armeniern, Georgiern und Ukrainern zeige
(W 2, 267). Folgerichtig kritisiert er hinsichtlich der Krise der
Zweiten Internationale am schärfsten die Sozialdemokraten
unterdrückter Länder, die der nationalistischen Bewegung nicht
widerstanden haben (vgl. 267f).
2.5 Lenin geht - wie Luxemburg und Trotzki - in der nationalen
Frage vom proletarischen Internationalismus aus. Doch anders als
diese besteht er auch unter den Bedingungen des Imperialismus
auf der dialektischen Wechselwirkung von Internationalismus und
nationalem Selbstbestimmungsrecht bis zur Lostrennung. Denn
zum einen könne allein >das Recht auf freie politische
Abtrennung< (Die sozialistische Revolution und das
Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1916, LW 22, 144) eine
freiwillige und selbstbestimmte Vereinigung und
Zusammenarbeit, langfristig die Verschmelzung der N.en
begründen. Zum anderen könne allein die Anerkennung des
Rechts auf Selbstbestimmung der unterdrückten N durch die
Arbeiterbewegung der unterdrückenden N dazu beitragen, die
Feindschaft und das Misstrauen zwischen den Unterdrückten zu

überwinden sowie das Proletariat beider N.en im internationalen
Kampf gegen die Bourgeoisie zu einen.
Methodisch zeichnet sich Lenin dadurch aus, dass er jeweils den
politischen Aspekt einer konkreten nationalen Frage in den
Vordergrund rückt. Während Luxemburg, Trotzki und die
Austromarxisten ihre Position tendenziell nach der ökonomischen,
kulturellen oder ^psychologischen^^ Dimension der nationalen
Frage ausrichten, liegt für Lenin das Selbstbestimmungsrecht der
N.en, solange es um den Kampf gegen feudale Reaktion und
Imperialismus geht, >ganz und ausschließlich< auf dem >Gebiet
der politischen Demokratie< (146), d.h. es bedeutet >das Recht
auf Unabhängigkeit im politischen Sinne, auf die Freiheit der
politischen Abtrennung< (147).
Selbstverständlich hat für Lenin der politische Aspekt der
Nationalitätenfrage nicht im Geringsten etwas mit dem zu tun,
womit sich Regierungen, Diplomaten und Armeen der
imperialistischen Staaten befassen. Die Fragen, ob diese oder jene
N einen unabhängigen Staat hat oder wo die Grenze zwischen
zwei Staaten verläuft, beurteilt er allein nach den Zielen radikaler
revolutionärer Demokratie und der internationalen Vereinigung
des Proletariats, die beide die Anerkennung des Rechts der N.en
auf Selbstbestimmung erfordern. Dabei macht er mit dieser
Position keinerlei Zugeständnisse an den Nationalismus. Sie ist

einzig und allein in der Sphäre des demokratischen Kampfs und
der proletarischen Revolution situiert.
Das Hauptdefizit der leninschen Konzeption ist, dass der Fokus
auf der Wahl zwischen Vereinigung und Abtrennung wenig Raum
für Alternativen wie die von Bauer und Renner geforderte
>sogenannte ^national-kulturelle Autonomie^^< lässt (LW 22,
148). In der Praxis machen Lenin und die Bolschewiki allerdings
nach dem Sieg der Revolution bei der Formierung der SU als
multinationaler Bundesstaat von beidem Gebrauch. So erweist
sich Bauers Konzept >kultureller Autonomie< letztlich doch als
Ergänzung – nicht als Alternative – zu einer Politik, die auf der
Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung fußt. Tatsächlich
beinhaltet die erste Verfassung der SU in gewisser Weise das
Prinzip kultureller Autonomie nationaler Minderheiten.
3. Von der Oktoberrevolution bis zum Ende des Zweiten
Weltkriegs konzentriert sich der marxistische Diskurs weiterhin
auf die Nationalitätenpolitik, die selbst im Zeichen des
Stalinismus steht und u.a. im Hinblick auf das (nicht gewährte)
Selbstbestimmungsrecht der Ukraine in den 1930er Jahren von
Trotzki und auf die Judenfrage von dessen Schüler Abraham
Léon kritisiert wird. In den USA heben afroamerikanische
Marxisten wie W.E.B. Du Bois und C.L.R. James in ihren
Analysen zur Lage der schwarzen Minderheit mehr auf die

rassistische als auf die nationale Unterdrückung ab. Im Europa der
1920er und 30er Jahre setzt der Kampf gegen den Faschismus die
Auseinandersetzung mit dem Nationalen erneut auf die
Tagesordnung. Der katalanische Marxist Andreu Nin
veröffentlicht 1935 sein Buch Els moviments d’emancipació
nacional (Die nationalen Emanzipationsbewegungen), in dem er
sich mit der Nationalitätenproblematik in der Ersten und Zweiten
Internationale, während der russischen Revolutionen und in der
SU auseinandersetzt. Antonio Gramsci entwickelt den Begriff des
Popular-Nationalen und konzipiert damit ^das Volk^^ in
emanzipatorischer Perspektive als das aus Subalternität sich
herausarbeitende politische Subjekt - im Gegensatz zu dem sich
dem ^Führer^^ demonstrativ unterstellenden faschistischen
^Volk^^, das die nicht zum ^Volk^^ in diesem Sinne gehörenden
Elemente aus der N ausschließt. So lässt sich die N nicht nur als
Basis für extremen Nationalismus und Rassismus, sondern auch
als Rückhalt und Impuls für antifaschistischen Widerstand
denken.
Insgesamt zeigen sich in dieser Zeit der Katastrophen die
ambivalenten Auswirkungen des 1918/19 bei der Gestaltung der
Nachkriegsordnung auch von US-Präsident Woodrow Wilson
unterstützten Konzepts nationaler Selbstbestimmung. Eric
Hobsbawm kritisiert mit Blick auf die Folgen sehr scharf den im
Anschluss an den Versailler Vertrag gemachten Versuch,

>staatliche Grenzen mit Nationalitäts- und Sprachgrenzen zur
Deckung zu bringen< (1991, 157). Diese Politik – der Versuch,
ethnisch homogene Staaten zu schaffen – musste zur
>massenhaften Vertreibung oder Vernichtung von Minderheiten<
führen (ebd.). >Das war und ist die mörderische reductio ad
absurdum eines Nationalismus in seiner territorialen Spielart,
obwohl dies erst in den Jahren nach 1940 deutlich zu sehen war.<
(157f)
4. In der zweiten Hälfte des 20. Jh. fächert sich das Spektrum der
Probleme und der Lösungsansätze weiter auf. Der
Staatssozialismus weitet sich zu einem internationalen System
aus, bei dessen Formierung und Entwicklung es um die nationalen
Besonderheiten auf dem Weg zum Sozialismus im Verhältnis zum
sowjetischen Modell geht; in den westlichen Industrieländern
werden v.a. die Funktion des Nationalstaats im kapitalistischen
Weltsystem und die Möglichkeiten und Grenzen einer
progressiven nationalstaatlichen Regulation diskutiert. Eine
umfangreiche marxistische Literatur beschäftigt sich mit den
nationalen Befreiungsbewegungen in den Kolonien und ihren
Rückwirkungen auf die Zentren des Weltkapitalismus.
Mit dem >cultural turn< in den mit Geschichte und Gesellschaft
befassten Wissenschaften treten v.a. im westlichen Marxismus
auch neue Ansätze zum Problem von N und Nationalstaat hervor.

Benedict Anderson und Hobsbawm sind die beiden
einflussreichsten Vertreter. Anderson definiert eine N als
>imagined community<, was in der deutschen Übersetzung mit
>Erfindung der N< wiedergegeben wird (1983/2005, 15).
^Vorgestellt^^ ist sie, >weil die Mitglieder selbst der kleinsten N
die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch
nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die
Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert< (ebd.). Sie haben
gegebenenfalls gemeinsame Interessen und begreifen sich als Teil
derselben N. Schließlich ist eine N eine Gemeinschaft, weil sie
>unabhängig von realer Ungleichheit und Ausbeutung [...] als
^kameradschaftlicher^^ Verbund von Gleichen verstanden wird.
Es war diese Brüderlichkeit, die es in den letzten zwei
Jahrhunderten möglich gemacht hat, dass Millionen von
Menschen für so begrenzte Vorstellungen weniger getötet haben
als vielmehr bereitwillig gestorben sind< (17).
Anderson zufolge spielt Sprache eine bedeutende Rolle bei der
Konstituierung und Konsolidierung nationaler >vorgestellter
Gemeinschaften<. Zunächst an eine schmale kultivierte Elite
gebunden, wird Sprache immer wichtiger mit der zunehmenden
Verbreitung des gedruckten Worts seit dem 18. Jh. und durch die
Institutionen öffentlicher Bildung und Verwaltung v.a. seit dem
19. Jh. Andersons Buch ist fraglos innovativ, auch wenn seine
Überbetonung des Bereichs der Vorstellungen gegenüber den

^objektiven^^ – ökonomischen, historischen, politischen –
Momenten bei der Konstituierung von N.en problematisch ist.
Hobsbawm diskutiert die verschiedenen Kriterien, die eine N
ausmachen - wie Sprache, Ethnizität, Territorium usw. -, und
kommt zu dem Schluss, weder >subjektive noch objektive
Definitionen< seien befriedigend, denn >beide führen in die Irre<;
als >vorläufige Arbeitshypothese< akzeptiert er als N lediglich
>jede ausreichend große Gemeinschaft von Menschen […], deren
Mitglieder sich als Angehörige einer ^N^^ betrachten< (1991, 19).
Wie Hobsbawm zeigt, werden im 19. Jh. allein große N.en als
>lebensfähig< erachtet (44): nicht nur Liberale, auch Marx und
Engels halten kleine N.en in der Regel für >Überbleibsel< (6/172)
der Vergangenheit und Hindernisse im geschichtlichen Fortschritt
(vgl. Hobsbawm 1991, 54-58). Freilich stellt sich die Frage, was
eine >ausreichend große Gemeinschaft< ist.
Für Hobsbawm als überzeugtem Internationalisten sind N.en
moderne, d.h. relativ junge Formationen, entstanden durch die
nationalistische Ideologie und die >Erfindung der Tradition<
(1983) – ein Konzept, das Andersons >imagined communities<
nahekommt. Ähnlich urteilt Göran Therborn, N.en seien
überhaupt >europäische Erfindungen, die sich – wie das
Repräsentativsystem – über die ganze Welt verbreiten< (2019,
192). Mit Ernest Gellner stimmt Hobsbawm darin überein, dass
N.en >das Element des Künstlichen, der Erfindung und des Social

engineering< zukommt (1991, 21), und er zitiert ihn an gleicher
Stelle wie folgt: >Dass N.en als eine natürliche, gottgegebene Art
der Klassifizierung von Menschen gelten – als ein […] politisches
Geschick - ist ein Mythos. Der Nationalismus, der manchmal
bereits bestehende Kulturen in N.en umwandelt, erfindet
manchmal Kulturen und vernichtet häufig tatsächlich bestehende
Kulturen: Das ist eine Realität.< (Gellner 1983/1991, 77) Aber er
widerspricht Gellner, wo dessen >bevorzugte Perspektive einer
Modernisierung von oben zu sehr den Blick von unten verstellt<
(Hobsbawm 1991, 22).
Hobsbawms Schlussfolgerung, N.en und Nationalismus hätten
gegen Ende des 20. Jh. an Bedeutung verloren, darf angezweifelt
werden. Während man der These zustimmen kann, dass der
Nationalstaat viel von seiner ökonomischen Bedeutung verloren
hat, ist weit weniger offenkundig, dass der Nationalismus >nicht
mehr als eine Haupttriebkraft der historischen Entwicklung
[fungiert]< (194). Freilich hat Hobsbawm damals nur die
Entwicklung bis 1990 vor Augen, aber auch so ist ihm klar, dass
>die jugoslawische Revolution<, die verhindert hat, dass die
verschiedenen >Nationalitäten innerhalb ihres Staates [...] sich
gegenseitig umbringen<, >unseligerweise gegenwärtig unter den
Händen zerfällt< (207). Nach dem Zerfall entfalten in Ex-
Jugoslawien die Nationalismen und durch sie legitimierte Kriege
wieder ihre Geschichtsmächtigkeit.

Auch wenn der Internationalismus vom marxistischen Standpunkt
die einzig schlüssige Perspektive darstellt, sollte dies nicht – wie
schon oft - dazu verleiten, Macht, Einfluss und Störungskapazität
von N.en und Nationalismus zu unterschätzen. Dies wird zu
Beginn des 21. Jh. erneut deutlich: Während die kapitalistische
Globalisierung die ökonomische Macht und politische
Souveränität von Nationalstaaten geschwächt zu haben scheint,
lässt sich überall auf der Welt, aber bes. in den hochentwickelten
kapitalistischen Ländern, eine zerstörerische Welle eines äußerst
reaktionären Nationalismus beobachten: imperialistische,
xenophobe, gegen Migranten gerichtete, rassistische, faschistische
Formen von Nationalismus, getragen nicht allein von Parteien und
Bewegungen, sondern auch von Regierungen.
Vor allem im globalen Süden gibt es indes auch fortschrittliche
Bewegungen nationaler oder ethnisch-kulturell begründeter
Emanzipation wie die der Palästinenser, Kurden und
lateinamerikanischer indigener Gruppen. Bemerkenswert ist, dass
manche dieser Bewegungen keine nationale Abtrennung
anstreben: die indigenen Gemeinschaften in Mexiko kämpfen für
lokale Autonomie; die in Bolivien und Ecuador für einen
plurinationalen Staat; die Kurden mit ihrer linken politischen
Hauptkraft, der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), haben die
Forderung nach einem separaten Nationalstaat aufgegeben, um für
eine demokratische Konföderation in der Türkei, dem Irak und

Syrien einzutreten. In den entwickelten Industrieländern formiert
sich unter Wiederbetonung nationaler Interessen auch sozialer
Protest gegen die Folgen von Neoliberalismus und Globalisierung.
Der Nationalismus erweist sich somit als eine durchaus
widersprüchliche Reaktionsform auf den Bedeutungsverlust des
Nationalstaats.
Bibliographie: B.Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur
Karriere eines folgenreichen Konzepts (Imagined Communities,
1983), a.d. Engl. v. Ch.Münz u. B.Burkard, 2., um e. Nachw. v.
Th.Mergel erw. A. d. Neuausg. v. 1996, Frankfurt/M 2005;
O.Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien
1907; E.Gellner, Nationalismus und Moderne (1983), a.d. Engl. v.
M.Büning, Berlin 1991; E.Hobsbawm, >Introduction: Inventing
Traditions<, in: ders. u. T.Ranger (Hg.), The Invention of
Tradition, Cambridge u.a. 1983, 1-14; ders., Nationen und
Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780 (1990), a.d. Engl. v.
U.Rennert, Frankfurt/M-New York 1991; M.Lewin, Lenins letzter
Kampf (1967), a.d. Frz. v. E.Gärtner, Frankfurt/M 1970; M.Löwy,
>Marxists and the National Question<, in: NLR 96, 17. Jg., 1976,
H. 2, 81-100; R.Luxemburg, Internationalismus und
Klassenkampf. Die polnischen Schriften, hgg. u. eingel. v.
J.Hentze, a.d. Poln. v. H.v.Breitenstein, A.Haardt u. J.Hentze,
Neuwied-Berlin/W 1971, darin: >Die Polnische Frage auf dem
Internationalen Kongress in London< (1896), 142-52, >Vorwort
zu dem Sammelband ^Die Polnische Frage und die Sozialistische
Bewegung^^< (1905), 179-219; dies., Die industrielle
Entwicklung Polens, Leipzig 1898; dies., Nationalitätenfrage und
Autonomie (1908/09), hgg., eingel. u. a.d. Poln. v. H.Politt (2012),
3., korr. A., Berlin 2018; R.Rosdolsky, >Friedrich Engels und das
Problem der ^geschichtslosen^^ Völker (Die Nationalitätenfrage
in der Revolution 1848–1849 im Lichte der ^Neuen Rheinischen

Zeitung^^)<, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 4, 1964, 87–282;
J.W.Stalin, >Marxismus und nationale Frage< (1913), W 2, 266-
333; G.Therborn, >Wege zur Moderne. Das Erbe der Trennungen
und Verbindungen der Welt – eine sozialgeschichtliche
Geologie<, in: Argument 332, 61. Jg., 2019, H. 2, 185-200;
L.D.Trotzki, Der Krieg und die Internationale, a.d. Russ. v.
N.Kleiner, München 1914; ders., Stalin. Eine Biographie (postum
1946), Bd. 1, hgg. v. H.Mehringer, n.d. amer. Orig. übers. v.
R.Kuhlmann, Reinbek 1971.
Michael Löwy (RSt)
II. Produktionsbedingungen und nationale Identität. – Während
die deutsche Sozialdemokratie in ihrem Eisenacher Programm
von 1869 die nationale Frage noch als eine >rein bürgerliche<
(Gallissot 1979, 787) behandelt, begreift der Marxismus seit Ende
des 19. Jh. die N als ^Problem^^ oder ^Frage^^, für die eine
theoretische und politische Lösung gefunden werden muss. Ihre
Dringlichkeit verschärft sich jeweils in Momenten großer
historischer Veränderungen. Seit Ende des 20. Jh. taucht das
^Problem der N^^ infolge des Falls der Berliner Mauer und einer
rasanten Globalisierung mit enormer Kraft und größerer
Komplexität wieder auf.
N.en und nationale Identitäten sind weder etwas Feststehendes
noch etwas Beliebiges, sondern nach Raum und Zeit, Ökonomie
und Gesellschaft, Sprache und Kultur spezifizierte Konstrukte. Sie
können sowohl Katalysatoren für emanzipatorische Bewegungen
sein als auch zur Legitimation von Herrschaft und Unterdrückung

im Innern wie auch von Expansion und Krieg nach außen dienen.
Auch wenn die nationale Gemeinschaft, der wir angehören, uns
als etwas ^Natürliches^^ erscheint, ist sie doch ein Gewordenes,
das nicht nur aus sozioökonomischen und kulturellen Bindungen,
sondern auch aus affektiv gegründeten und wirkmächtigen
Überzeugungen resultiert. Der in den Sozial- und
Kulturwissenschaften in den 1970er Jahren einsetzende Übergang
zur Problematik der ^nationalen Identität^^ hat auch für
marxistische Ansätze den Vorteil, dass man von der politisch-
konzeptionellen Behandlung der ^nationalen Frage^^ zur Suche
nach einer Lösung kommt, die Objektives wie Subjektives des
nationalen Phänomens umfasst. Dabei ist der Rückgriff auf Marx
und Engels umso hilfreicher, als sie die historisch-materialistische
Basis der Gesellschaften in Wechselwirkung mit Bewusstsein und
Politik zu fassen versuchen. Dadurch erst werden nationale
Gegebenheiten verständlich, die sonst immer wieder auf den
Bereich der Ideen und Gefühle reduziert werden.
1.1 Marx und Engels haben keine ausgearbeitete materialistische
Theorie der N hinterlassen. Gleichwohl lässt sich aus einer
genauen Lektüre ihrer Werke - wie für andere Themen, die ihre
Aufmerksamkeit mehr in Anspruch nahmen wie z.B. Staat und
Klassen - auch für die Frage der N eine klare konzeptionelle
Orientierung erkennen. Schon im Manifest (1848) mussten sie sich

dem Vorwurf stellen, >sie wollten das Vaterland, die Nationalität
abschaffen< (4/479). Ihre Antwort besteht aus drei miteinander
verbundenen Aussagen: (a) >Die Arbeiter haben kein Vaterland<;
(b) das Proletariat muss >sich zur nationalen Klasse erheben, sich
selbst als N konstituieren<; (c) das Proletariat ist >selbst noch
national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie< (ebd.)
- eine komplexe Antwort, die der Dialektik von Nationalismus
und Internationalismus des Proletariats Rechnung trägt.
Ein fruchtbarer Ausgangspunkt für die Rekonstruktion einer
marxistischen Theorie der N ist der Begriff der
Produktionsbedingungen, der von Marx und Engels vielfach
verwendet wurde, einerseits in engem Zusammenhang mit
historisch-materialistischen Grundbegriffen wie Produktivkräfte,
Produktionsverhältnisse und Produktionsweise, andererseits um
klassenübergreifende räumliche Einheiten und Gemeinschaften
(wie Land, Volk, Vaterland usw.) zu bestimmen. Mit dem
Ausdruck Bedingungen fügen Marx und Engels den abstrakten
Grundbegriffen des historischen Materialismus einen Terminus
hinzu, der die Verhältnisse nach Ort und Zeit zu spezifizieren
verlangt, wobei bes. die Produktionsbedingungen betont werden.
Bereits in der Deutschen Ideologie heißt es, dass alles, was die
>bestimmte Lebensweise< der Individuen betrifft, >von den
materiellen Bedingungen ihrer Produktion [abhängt]< (3/21). Die
>natürlichen Produktionsbedingungen< (42/399) kennzeichnet

Marx in den Grundrissen dann auf doppelte Weise: zum einen als
das >Zubehören< des >lebendigen Individuums […] zu einer
naturwüchsigen Gesellschaft<, was schon Bedingung für seine
>Sprache< ist; zum anderen als >Aneignung der Erde, sei es zu
festem Wohnplatz, sei es zum roaming, sei es zum Weiden für die
Tiere< (400). In diesem elementaren Sinn sind die
Produktionsbedingungen Voraussetzung nicht nur für die Analyse
der Basisprozesse innerhalb von Gesellschaftsformationen,
sondern auch jeglicher Herausbildung ethnisch-kultureller und
politisch-staatlicher Einheiten bis hin zu modernen N.en und
Nationalstaaten. Damit verwerfen Marx und Engels eine u.a. von
Ernest Renan (Qu’est-ce qu’une nation?, 1882) prominent
vertretene hyper-subjektivistische Auffassung der N, die bis ins
21. Jh. wirksam ist.
Bei Marx und Engels lassen sich der Sache nach drei Typen bzw.
Dimensionen von Produktionsbedingungen unterscheiden:
natürliche (z.B. Böden, Klimata, Bodenschätze), allgemeine
historisch-gesellschaftliche (z.B. gebaute Infrastrukturen, Sprache,
Kultur) und – im engen Sinne – ökonomische, d.h. für die jeweils
herrschende Produktionsweise spezifische (z.B. die Existenz von
Lohnarbeit und Kapital als grundlegende, durch die
Produktionsverhältnisse gesetzte Bedingung des Kapitalismus);
diese Unterscheidung ist allerdings als ^flüssig^^ aufzufassen und
zudem können sich z.B. natürliche oder historisch-

gesellschaftliche Produktionsbedingungen in ökonomische
verwandeln (Barros 2020, 118-21). Die Vielfalt der natürlichen
und historisch-gesellschaftlichen Bedingungen wirkt auf die
Produktionsmittel, -verhältnisse und -weisen ein, woraus neben
Klassen und Staaten auch die Vielfalt des Nationalen entsteht. Es
kann dann von nationalen Produktionsbedingungen als der
historisch-materiellen Basis der Ausbildung von N.en und ihrem
kollektiven Bewusstsein als nationale Identitäten gesprochen
werden; entsprechend lassen sich nationale Unterschiede als
Resultate der unterschiedlichen nationalen
Produktionsbedingungen auffassen, was das Konzept der N eng
mit dem der Produktionsbedingungen verknüpft (vgl. 135).
Einen zu dieser Konzeption passenden philosophischen Ansatz
kannten Marx und Engels von Hegel, der einen das Werden,
Gewordensein und Vergehen der zu betrachtenden Phänomene,
d.h. ihre Vergänglichkeit einschließenden Begriff der
>Umstände< und >Bedingungen< (Logik, W 6, 211) entwickelt
hatte: >Wenn alle Bedingungen einer Sache vollständig vorhanden
sind, so tritt sie in Wirklichkeit< (209) und erzeugt zugleich die
Bedingungen ihres Vergehens. Gemäß seiner idealistischen
Geschichtsphilosophie zeigt sich im Auftauchen und
Verschwinden der Völker, dass >der bestimmte Volksgeist selbst
nur ein Individuum [...] im Gange der Weltgeschichte< ist
(PhilGesch, W 12, 73) und damit zugleich Teil des allgemeinen

>Geistes, welcher die Weltgeschichte zu seinem Schauplatze,
Eigentum und Felde seiner Verwirklichung hat< (75).
Marx und Engels stimmen mit Hegel hinsichtlich der
Geschichtlichkeit des Nationalen überein. Sie widersprechen indes
seiner Vorstellung von einem Weltgeist als allgemeinem Subjekt
der Geschichte. Engels bestimmt die >politische Ökonomie< als
die >Wissenschaft von den Bedingungen und Formen, unter denen
die verschiednen menschlichen Gesellschaften produziert und
ausgetauscht […] haben< (AD, 20/139), wobei die Menschen
>ihre Geschichte selbst [machen], aber bis jetzt nicht mit
Gesamtwillen nach einem Gesamtplan< (an Borgius, 25.1.1894,
39/206), sondern - wie Marx präzisiert - >unter unmittelbar
vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen< (18.B,
8/115). Für Marx und Engels sind die grundlegenden Subjekte
der Geschichte erstens die gesellschaftlichen Klassen, die sich aus
dem Prozess der Produktion und Reproduktion des menschlichen
Daseins ergeben; und zweitens die N.en, verstanden als
gesellschaftliche und geschichtliche Kräfte. Die gesellschaftlichen
Klassen und damit auch die Klassenkämpfe gehen aus der
jeweiligen Produktionsweise hervor, während sich ethnische
Gemeinschaften und später N.en unter räumlich und historisch
spezifischen Produktionsbedingungen formieren, um die sie
untereinander konkurrieren. Sowohl die Kämpfe zwischen den

Klassen und als auch die Kriege zwischen den N.en sind jedoch in
der geschichtlichen Realität nur im Zusammenhang zu begreifen.
1.2 Marx und Engels verwenden den Ausdruck N (und verwandte
Ausdrücke) für alle historischen Epochen, auch wenn sie sich v.a.
der bürgerlichen N widmen. Sie lassen die N.en gemeinsam mit
den gesellschaftlichen Klassen im Übergang von der
Vorgeschichte zur Geschichte entstehen, von der
Produktionsweise der ursprünglichen Gemeinwesen zur Familie,
zum Privateigentum und zum Staat. So fange der >Gegensatz
zwischen Stadt und Land […] an mit dem Übergange aus der
Barbarei in die Zivilisation, aus dem Stammwesen in den Staat,
aus der Lokalität in die N< (DI, 3/50). Aus dem >Widerspruch des
besondern und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das
gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung
[…] an, […] aber stets auf der realen Basis der in jedem Familien-
und Stamm-Konglomerat vorhandenen Bänder, wie Fleisch und
Blut, Sprache, Teilung der Arbeit<, welche die >in jedem
derartigen Menschenhaufen< sich absondernden >Klassen<
bedingt (33). Den marxschen Gedanken, dass das Individuum
stets einem >größren Ganzen angehörig< ist, etwa einem aus der
>Verschmelzung der Stämme hervorgehenden Gemeinwesen<
(Einl 57, 42/20), nimmt der späte Engels wieder auf: >Aber in
einzelnen Gegenden hatten sich ursprünglich verwandte Stämme
aus der Zersplitterung wieder zusammengeschlossen zu dauernden

Bünden und so den ersten Schritt getan zur Bildung von N.en.<
(Ursprung, 21/93)
Eine nationale Identität, gleichgültig gegenüber
Klassenbeziehungen und von langer Dauer, mit der die Menschen
von ihrer jeweils individuellen Lage abstrahieren und sich, wenn
auch in verzerrter Form, gemeinsamer Interessen gegenüber
Dritten bewusstwerden, kann sich nur vollständig entfalten in
einer Produktionsweise, in der die Menschen als Gleiche
erscheinen und doch Ungleiche sind. Insofern ist die moderne
bürgerliche N die entwickeltste Form des Nationalen. Engels
beurteilt die im Gothaer Programm der deutschen
Sozialdemokratie (1875) erhobene Forderung nach >^Beseitigung
aller sozialen und politischen Ungleichheit^^< - anstatt
>^Aufhebung aller Klassenunterschiede^^< - als >eine sehr
bedenkliche Phrase< (an Bebel, 18./28.3.1875, 19/7). Denn auch
in einer sich in selbstverwalteten Kommunen organisierenden
Gesellschaft ohne Klassen und Staat wird >von Land zu Land, von
Provinz zu Provinz, von Ort zu Ort […] immer eine gewisse
Ungleichheit der Lebensbedingungen bestehen, die man auf ein
Minimum reduzieren, aber nie ganz beseitigen können wird.
Alpenbewohner werden immer andere Lebensbedingungen haben
als Leute des flachen Landes.< (Ebd.)
Marx und Engels kommen immer wieder auf die zu ihrer Zeit
virulenten Fragen des Nationalen zurück. Die Entstehung

Frankreichs, die deutsche Einigung, die Wiederherstellung Polens,
die Befreiung Irlands, die Kolonisierung Indiens und Chinas sowie
die Autonomiebestrebungen der slawischen Völker bieten Anlässe
dazu (vgl. etwa Engels, 8/49-52; Barros 2020, 67-110). Sie setzen
dabei natürliche, historisch-gesellschaftliche und ökonomische
Produktionsbedingungen zueinander ins Verhältnis, wobei sie
allgemeine und spezifische, dem menschlichen Handeln
vorgegebene und aus diesem resultierende, objektive (produktive
Basis und natürliche Umwelt) und subjektive (Kämpfe der
Klassen und N.en), innere und äußere Bedingungen unterscheiden.
Sie scheuen sich dabei nicht, kühne Schlussfolgerungen
hinsichtlich der Realisierbarkeit verschiedener nationaler Projekte
zu ziehen; und sie rechtfertigen, vom Standpunkt des Proletariats
als ^nationaler^^ und ^internationaler^^ Klasse, ihre Vorschläge
zur nationalen Befreiung unterdrückter N.en bzw. zur
Unterstützung fortschrittlicher N.en in ihrem Kampf gegen
reaktionäre.
Insgesamt ergeben sich drei Schlussfolgerungen: (a) das
Phänomen des Nationalen ist variabel in Raum und Zeit; (b) jede
N bildet eine konkrete Totalität; (c) jede N kann nur aus dem
Zusammenspiel objektiver und subjektiver Dimensionen ihrer
Geschichte und in ihrem jeweiligen internationalen Kontext
verstanden werden.

2. Der komplexe Ansatz von Marx und Engels zur Analyse des
Nationalen wird später im Marxismus wenig beachtet. Seit Ende
des 19. Jh. werden die Positionen zum Begriff der N und zur
nationalen Frage vielmehr weitgehend von den in der Zweiten
Internationale und später um die Auffassungen Lenins und der
Bolschewiki geführten Auseinandersetzungen geprägt. Dabei wird
der Begriff der Produktionsbedingungen immer weniger
verwendet - zum Schaden der wissenschaftlichen
Herangehensweise an Fragen des Nationalen. Denn dies erschwert
eine ^vertiefte^^ Auffassung nationaler Phänomene, die die
historisch-materielle Basis gegenüber Ideologie und Politik betont.
Die zweifellos große Wirkmacht von Ideologie und Politik kann
nur in Wechselwirkung mit der sozioökonomischen Entwicklung
verstanden werden.
Die nationale Frage ist zu Beginn des 20. Jh. im zaristischen
Russland omnipräsent. Seit der Revolution von 1905 erlebt das
russische Reich >das Erwachen des Nationalismus bei den
unterdrückten N.en< (Lenin, 1914, LW 20, 459) – ein Thema, das
auch die Aufmerksamkeit der entstehenden SDAPR (Bolschewiki)
erregt. Lenin schreibt darüber in Kritische Notizen zur nationalen
Frage (1913) und Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen
(1914) von einem dem großrussischen Nationalismus
entgegengesetzten politischen Standpunkt aus. Ber Borochow, ein
ukrainischer Linkszionist, beschäftigt sich schon früher mit der

nationalen Frage. Mit seiner Partei (Poale Zion) schließt er sich
später den Bolschewiki an. Er nimmt an der Oktoberrevolution teil
und stirbt im Dezember 1917 mit 36 Jahren. Sein größtes
Verdienst ist, dass er – anknüpfend an Marx und Engels und
ausgehend vom Begriff der Produktionsbedingungen – das
Nationale mit dem ökonomischen Produktionsprozess und den
historisch-materialistischen Grundbegriffen theoretisch zu
verknüpfen versucht. Dass er in Vergessenheit gerät, liegt v.a. an
Stalins Monopolisierung des marxistischen Diskurses über die N,
die selbst über seinen Tod hinaus anhält. Stalins Schrift, zunächst
unter dem bescheidenen Titel Die nationale Frage und die
Sozialdemokratie (1913) veröffentlicht, bekommt bereits 1914,
trotz ihres historisch spezifischen Bezugs auf den in Europa sich
entwickelnden Kapitalismus, den >die marxistische Lösung
schlechthin< (Gallissot 1979, 791) beanspruchenden Titel
Nationale Frage und Marxismus, später Marxismus und nationale
Frage (1934).
2.1 Borochow, der Werke wie die Deutsche Ideologie oder die
Grundrisse nicht kennen konnte, kommt zu einer vereinfachenden
Zusammenfassung der Positionen von Marx und Engels: (a) >Die
Menschheit [ist] in Gesellschaften geteilt<, letztere wiederum >in
Klassen gegliedert< (1905/1932, 39); (b) >in dem Begriff der
^Produktionsbedingungen^^ liegt für uns ein fester
Ausgangspunkt, von dem aus wir eine rein materialistische

Theorie für die nationale Frage aufbauen können< (41); (c) eine
gegebene >Gesellschaft< ist, >sobald sie den Wirkungskreis ihrer
Produktionsbedingungen erweitern will, gezwungen, fremde
Positionen zu erobern […]. Die einen wollen erobern, die anderen
sich schützen. Wir haben es hier mit einem nationalen Kampf zu
tun.< (43; vgl. Gr, 42/399 u. Barros 2020, 112ff)
Borochows persönlicher Einsatz für eine territoriale Lösung der
jüdischen Frage und sein begrenzter Zugang zu den Quellen
^beschränken^^ seine Auffassungen. Daher kann er zu Recht
dafür kritisiert werden, dass er (a) den Begriff der
Produktionsbedingungen mit Tendenz zum Determinismus
verwendet (Gallissot 1971, 64), (b) die ökonomische Basis nicht
als die ^in letzter Instanz^^ entscheidende Dimension der
nationalen Produktionsbedingungen ansieht, (c) den
Klassenkampf von den Kämpfen der N.en gegeneinander trennt
trotz deren gemeinsamer ökonomischer Basis und (d) übersieht,
dass die Produktionsbedingungen auch solche der
>gesellschaftlichen Reproduktion< sind (vgl. 1979, 837). Dennoch
ist Borochows Werk ein wichtiger Impuls für die Neuaneignung
eines materialistischen, historischen und dialektischen Begriffs der
N.
2.2 Zugleich setzt sich in weiten Teilen des Marxismus im 20. Jh.,
von der SU und der KI ausgehend, Stalins Auffassung durch, der
die Arbeiten des Juden Borochow ignoriert - ein Begriff von N,

mehr deskriptiv als analytisch, mehr politisch als theoretisch,
losgelöst von den Bemühungen von Marx und Engels, die N
zusammen mit Klasse und Staat zu Grundbegriffen des
historischen Materialismus zu machen. Stalin definiert eine N als
>historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen,
entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des
Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der
Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart<,
wobei er apodiktisch festlegt: >Nur das Vorhandensein aller [vier]
Merkmale zusammen ergibt eine N.< (W 2, 272; Herv. getilgt)
Eine solch rigide Festlegung kann der gesamten Bandbreite des
Nationalen in der Geschichte nicht gerecht werden. Sie schließt
auch die jüdische N aus, die bis 1948 in Palästina kein eigenes
Territorium hat.
Zwar sind Engels zufolge Definitionen >für die Wissenschaft
wertlos, weil stets unzulänglich. Die einzig reelle Definition ist die
Entwicklung der Sache selbst, und diese ist aber keine Definition
mehr. […] Dagegen kann für den Handgebrauch eine kurze
Darlegung der allgemeinsten und zugleich bezeichnendsten
Charaktere in einer sog. Definition oft nützlich und sogar
notwendig sein, und kann auch nicht schaden, wenn man von ihr
nicht mehr verlangt, als sie eben aussprechen kann.< (20/578)
Doch letzteres trifft auf Stalins Definition einer N – die sich im
Übrigen kaum von derjenigen unterscheidet, derer sich damals der

Völkerbund bedient - nicht zu, weil er mit ihr einen umfassenden
Anspruch erhebt, dem sie nicht gerecht werden kann.
Als Stalin seinen Aufsatz ausarbeitet, geht es um die Einheit der
Sozialdemokratie im russischen Reich, die mit Forderungen nach
nationaler Autonomie konfrontiert ist, etwa von Seiten des
jüdischen >Bunds< oder eines Teils der sozialdemokratischen
Kaukasier, >der der nationalistischen ^Seuche^^ nicht standhielt<
(W 2, 315). In diesem Zusammenhang attackiert Stalin >die
national-kulturelle Autonomie< Karl Renners und Otto Bauers
als eine >verfeinerte Spielart des Nationalismus< (300) und sieht
in Bauers Konzept einen >evolutionistisch-nationalen< Versuch,
>den Klassenkampf der Arbeiter dem Kampf der N.en
anzupassen< (284). Stalin kritisiert Bauer dafür, den
>^Nationalcharakter^^< als >das einzige wesentliche Merkmal der
N< (272) aufzufassen. Das scheint zwar auf eine allgemeine
Charakteristik bei Bauer zuzutreffen: >Die N ist nie etwas anderes
als Schicksalsgemeinschaft<, die >einerseits durch die natürliche
Vererbung der durch das gemeinsame Schicksal der N
angezüchteten Eigenschaften [wirksam wird], andererseits durch
die Ueberlieferung der durch das Schicksal der N in ihrer
Eigenart bestimmten Kulturgüter< (1907, 24f). Stalin übersieht
jedoch, dass Bauer den Ausdruck >Schicksal< dabei historisch-
materialistisch versteht, wie aus dem Kontext hervorgeht: >Die
Bedingungen, unter denen die Menschen ihren Lebensunterhalt

produzieren und den Ertrag ihrer Arbeit verteilen, bestimmen das
Schicksal jedes Volkes; auf der Grundlage einer bestimmten Art
der Produktion und Verteilung des Lebensunterhaltes entsteht
auch eine bestimmte geistige Kultur.< (24) Stalin selbst betont,
dass der Nationalcharakter >Widerspiegelung der
Lebensbedingungen<, des >Milieus< ist, und bleibt zugleich
unklar in Bezug auf die Bedeutung des Ökonomischen, wenn er
die >wirtschaftlichen Bedingungen< (W 2, 275) nur als eines von
mehreren gleichrangigen Merkmalen sieht, die die N bestimmen.
Später benutzt Stalin in seiner millionenfach verbreiteten Schrift
DHMat prominent den - von Marx und Engels ebenfalls
verwendeten - Ausdruck >materielle Lebensbedingungen<
(1938/1951, 146) bzw. >Bedingungen des materiellen Lebens der
Gesellschaft< (148ff u.ö.). Damit legt er einen Kanon von
Begriffen (Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse,
Produktionsweise, Gesellschaftsformation) fest, dem Marta
Harnecker in ihrem in der spanischsprachigen Welt viel gelesen
Buch Los conceptos elementales del materialismo histórico (1969)
folgt und in dem die >Produktionsbedingungen< fehlen.
3. Im Zuge der Erneuerung des westlichen Marxismus seit den
1960er Jahren werden einige Aspekte des ursprünglichen
Herangehens von Marx und Engels an die Frage der N wieder
aufgegriffen. Emmanuel Terray kritisiert Stalin für >die

Willkür< der Anzahl und Kombination der Kriterien, die darüber
entscheiden sollen, was eine N ist (1973, 493). Statt die N zu
einem >transhistorischen< (494) Wesen zu machen, sei bei der
>Definition der N< wieder von einer historisch konkreten
>Unterscheidung von objektiven und subjektiven Faktoren<
auszugehen (495). Dies stärke die Vorstellung, wonach die N ein
soziales Subjekt ist: ein >Block von Klassen<, der sich zu einem
gegebenen Zeitpunkt als N konstituiert – nicht als >objektives
Ensemble<, sondern als >geschichtliche Kraft< (496f), eine
Vorstellung, die auf die Französische Revolution zurückgeht und
die Marx und Engels sich zu eigen machten.
Pierre Vilar (1962) plädiert in einer Untersuchung der Stellung
der Katalanen im spanischen Staat dafür, die N nicht nur dem
Aufstieg des Kapitalismus zuzuordnen, sondern als eine allen
historischen Epochen zukommende Kategorie zu behandeln.
Ähnlich urteilt Nicos Poulantzas, der auf den - auch im
strukturalistischen Marxismus an den Rand gedrängten - Begriff
der Produktions- und Reproduktionsbedingungen rekurriert, ohne
den Terminus zu verwenden: >Die N ist nicht mit der modernen N
und dem Nationalstaat identisch, wie man ihn bei der Entstehung
des Kapitalismus im Westen antrifft. ^Etwas^^, das mit dem
Ausdruck ^N^^ bezeichnet wird, d.h. eine besondere Einheit für
die Reproduktion des Ensembles der gesellschaftlichen
Verhältnisse, gibt es schon lange vor dem Kapitalismus.<

(1978/2002, 123) Carlos Barros (1985) versucht, im Rückgriff
auf die Arbeiten Borochows, die Konzeption des Nationalen bei
Marx und Engels zu rekonstruieren.
4. Seit den Zeiten von Marx und Engels ist die Konstellation des
Nationalen und Internationalen, verglichen mit der ihre
Erfahrungen bestimmenden Periode des klassischen bürgerlichen
Nationalstaats und den Anfängen des Imperialismus, komplexer
und vielgestaltiger geworden. Ein gewaltiger Produktivkraftsprung
hat zu Beginn des 21. Jh. neue Produktions-, Kommunikations-
und Handelsverhältnisse hervorgebracht, die alle Dimensionen der
menschlichen Existenz berühren (vgl. Barros 2018, 148). Daraus
resultieren drei widersprüchliche Entwicklungen: (a) die
Wiederbelebung oder Neuformierung vormoderner Nationalitäten
und präkolonialer Ethnien im Widerstand gegen die
Auswirkungen der Globalisierung, (b) Bedeutungsverluste der im
18. und 19. Jh. entstandenen und bislang dominanten
Nationalstaaten (vgl. Talbott 1992, 70) sowie (c) neue
supranationale Strukturen, die ein direktes Produkt der
transnationalen Kooperations-, Integrations- und
Kommunikationsräume sind, wie etwa die Europäische Union, mit
unterschiedlichen Abstufungen der Institutionalisierung und
politischen Souveränität (vgl. Falk/Strauss 2001; Barros 2018,
148f).

Ungeachtet der zunehmenden inter- und transnationalen
Verflechtung vollzogen sich die gesellschaftlichen Produktions-
und Reproduktionsprozesse bis zum letzten Drittel des 20. Jh.
noch nicht primär auf globaler Ebene. Trotz wachsender
Weltmarktabhängigkeit beschränkten sie sich noch weitgehend auf
nationale, voneinander abgegrenzte Räume. Seit Ende des 20. Jh.
sorgt die Dialektik von Einheit und Vielfalt der neuen allgemeinen
Produktionsbedingungen dafür, dass die nationalen Phänomene
sich nicht mehr vorwiegend auf der Ebene des Nationalstaats,
sondern in übergeordneten Zusammenschlüssen entwickeln. Eine
N ist nun in der Regel ein mehr oder weniger untergeordneter Teil
einer größeren Gemeinschaft, die wiederum selbst neue Formen
übergreifender Identität hervorbringt, wie sie früher für ein
eigenständiges Nationalbewusstsein charakteristisch war. Die
Überlagerung verschiedener Typen nationaler Gemeinschaften
führt zur doppelten oder dreifachen ^Staatsangehörigkeit^^ des
Einzelnen. Dieser zwischen Einheit und Vielfalt oszillierende
Prozess steckt noch in seinen Anfängen (Barros 2020, 177). Die
fortschreitende Universalisierung von Werten ruft Bestrebungen
hervor, die ethnische und nationale Diversität als bedeutenden Teil
des gemeinsamen geschichtlichen, kulturellen und politischen
Erbes der Menschheit anzuerkennen.
Um die Veränderungen des Nationalen zu untersuchen, muss den
jeweiligen Produktions- und Reproduktionsbedingungen in ihren

unterschiedlichen Dimensionen Rechnung getragen werden. Erst
dann lassen sich die auf komplizierte Weise ineinandergreifenden
Projekte von nationaler Befreiung, Rückgewinnung autonomer
Rechte oder nationalstaatlicher Integration auf einem bestimmten
Territorium – man denke etwa an die Iberische Halbinsel -
beurteilen. Angesichts einer zu Beginn des 21. Jh.
vorherrschenden Haltung, das Phänomen des Nationalen v.a.
ideologisch oder affektiv aufzufassen, sollte dem
wissenschaftlichen und politischen Denken durch eine historisch-
kritische, Gültiges und Abgegoltenes unterscheidende Rezeption
der Ansätze von Marx und Engels wieder auf die Sprünge
geholfen werden.
Bibliographie: C.Barros, >A base material e histórica da nación
en Marx y Engels<, in: ders. u. J.Vilas Nogueira (Hg.), Dende
Galicia: Marx. Homenaxe a Marx no 1. centenario da súa morte,
Sada (A Coruña) 1985, 137-207; ders., >Los fines de la historia en
el siglo XI<, in: Historia Actual Online 45, 16. Jg., 2018, H. 1,
147-55 (www); ders., La base material de la nación. El concepto
de nación en Marx y Engels, Vilassar de Dalt/Barcelona 2020;
O.Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien
1907; B.Borochow, >Die Klasseninteressen und die nationale
Frage< (1905), in: ders., Sozialismus und Zionismus: Eine
Synthese. Ausgewählte Schriften, hgg. u. eingel. v. M.Singer, a.d.
Russ. v. J.S., Wien 1932, 37-76; R.Falk u. A.Strauss, >Toward
Global Parliament<, in: Foreign Affairs, 80. Jg., 2001, H. 1, 212-
20; R.Gallissot, >Contre le fétichisme<, in: La Pensée. Revue du
rationalisme moderne 159, 29. Jg., 1971, H. 1, 59-66; ders.,
>Nazione e nazionalità nei dibattiti del movimento operaio<, in:

E.J.Hobsbawm u.a. (Hg.), Storia del marxismo, Bd. II: Il
marxismo nell'età della Seconda Internazionale, Turin 1979, 785-
864; N.Poulantzas, Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie,
Autoritärer Etatismus (1978), eingel. v. A.Demirovic, J.Hirsch u.
B.Jessop, a.d. Frz. v. H.Arenz, Th.Brackmann, H.Friedhoff u.
R.Löper, Hamburg 2002; J.Stalin, DHMat, in: Geschichte der
kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer
Lehrgang (russ. 1938), 7.A., Berlin/DDR 1951, 131-66;
S.Talbott, >The Birth of the Global Nation<, in: Time Magazine,
70. Jg., 1992, H. 29, 70f; E.Terray, >L’idée de nation et les
transformations du capitalisme<, in: Les Temps Modernes 324-26,
29. Jg., 1973, H. 9, 492-508; P.Vilar, La Catalogne dans
l’Espagne moderne. Recherches sur les fondements économiques
des structures nationales, Paris 1962.
Carlos Barros (ON)
Anerkennung, Austromarxismus, Black Marxism, bürgerliche
Revolution, Chauvinismus, Einheit, Emanzipation,
Entkolonisierung, Ethnie/Ethnizität, Ethnozentrismus, Europa,
europäische Integration, Französische Revolution, Gemeinschaft,
Genozid, geschichtslose Völker, Gesellschaft,
Gesellschaftsformation, Globalisierung, Globalisierungskritik,
Hegemonie, Identifikation, Identität, Identitätslogik,
Identitätspolitik, Imperialismus, Individualismus,
internationalistische Bewegung, Irische Frage, Judenfrage,
Kapitalismus, Kapitalismusentstehung, Kollektiv, Kolonialismus,
Konkurrenz, Kosmopolitismus (moderner), Kultur,
Lebensweise/Lebensbedingungen, Materialismus
(geographischer), Migration, Moderne, Nahostkonflikt,
national/nationalistisch, nationale Befreiung, nationale
Bourgeoisie, nationale Frage, nationale Minderheiten, nationaler
Weg zum Sozialismus, nationale Spezifik, Nationalstaat,
Ökonomismus, passive Revolution, Patriotismus,
Produktionsfaktoren, Produktionsverhältnisse, Produktivkräfte,
proletarischer Internationalismus, Rassismus, Region,
Selbstbestimmung, Sprache, Staat, Staatsentstehung, Tradition,

Überbau, Unterdrückung, Volk, Völkermord, Volkssouveränität,
Zapatismus, Zionismus, Zweite Internationale